Vor ungefähr 30 Jahren habe ich bei einer Podiumsdiskussion im Märkischen Gymnasium gesagt: „Die Fußgängerzone ist ein Auslaufmodell!“ Einige fanden das lustig. Andere fühlten sich anscheinend in ihrer Existenz bedroht. Aber es stimmte gar nicht, was ich behauptet hatte. Zwar schlossen einige Geschäfte und standen eine Weile leer, aber dann zogen andere ein. Abgesehen davon, dass es plötzlich viele Bäckereien und Handy-Shops gab, schien sich in der Fußgängerzone nichts zu ändern, sie war weiterhin ein belebter und beliebter Platz, wo man sich traf. Was hatte ich mir bei meiner Behauptung gedacht? War es nur ein spontaner Gag? Sicherlich nicht! Tatsächlich war der Kahlschlag in den Innenstädten auch in Schwelm spürbar.
In den 1960er und 1970er Jahren wurden die Kund*innen mobiler und waren nicht mehr darauf angewiesen, in Schwelm einzukaufen, sondern ließen sich vom verführerischen Waren-und Erlebnisangebot der umliegenden Großstädte anlocken. Die Geschäfte wurden immer größer und beanspruchten Flächen, die in der Innenstadt nicht zur Verfügung standen, außerhalb der Innenstädte wurden ausgedehnte Einkaufszentren gebaut. „Auf der grünen Wiese“ nannte man das.
Als ich die Fußgängerzone zum Auslaufmodell erklärte, ahnte ich noch nicht, in welchem Maße die Digitalisierung unseren Alltag durchdringen würde. Inzwischen ist meine Behauptung für viele Städte traurige Realität geworden. Dass Schwelm vergleichsweise glimpflich davongekommen ist, liegt, glaube ich, weniger am Einzelhandel als viel mehr an den Eisdielen, Restaurants und Kneipen. Und nicht zuletzt an der Geschichte Schwelms als eine Stadt, die um ein Zentrum herum gewachsen ist. Der Kampf des Einzelhandels ums Überleben gegen den Online-Markt, allen voran Amazon und EBay, ist in vollem Gange. Jetzt könnte die Corona-Pandemie ihm den Todesstoß versetzen. Daran wird auch das neue Rathaus nichts ändern.
Vor 30 Jahren gab es das Internet zwar schon, aber Algorithmen waren noch Science-Fiction. Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft, hatten die Staaten, die Welt und letztlich Einzelhandel noch nicht im Würgegriff. Wenn man Amazon-Chef Jeff Bezos und Microsoft-Gründer Bill Gates zugehört hätte, wäre man gewarnt und nicht ahnungslos gewesen. Sie haben die Manipulation des Einzelnen und die Steuerung unseres Alltags durch das Internet schon in den 1990er Jahren vorausgesagt. Bezos: „Einkaufszentren sind Geschichte. (… ) Wir wollen einen Ort schaffen, an dem man nahezu alles kaufen kann.“ Wäre diese Entwicklung noch aufzuhalten gewesen? Ich glaube nicht.
Unter der Überschrift „Sterbende Innenstädte in der Coronakrise“ veröffentlichte Spiegel-Online ein Interview mit Professor Thomas Krüger, Experte für Projektentwicklung, Projektmanagement und Stadtplanung. Professor Krüger sagte: „Wenn wir jetzt nichts tun, ist die Party vorbei.“ Er fordert mehr Kultur und Bildung in den Innenstädten und einen „Dialog der City-Akteure“, der „kann und muss aus dem Rathaus angestoßen und moderiert werden. Der reine Markt wird das Problem jedenfalls nicht lösen, das wäre der Niedergang der Zentren.“ ( … ) „Der Schaufensterbummel muss wieder Freude bereiten. Es muss wirklich etwas Neues zu entdecken geben, und man muss etwas erleben können.“ Im Grunde zeigt das Spiegel-Interview mit Professor Krüger die Hilflosigkeit angesichts des Problems, denn wie man weiß, findet das Gespräch über Kultur und Bildung in der Politik und der Wirtschaft nur im Feigenblatt-Modus statt. Es gibt kein konkretes Rezept, wie man die Erosion des Einzelhandels aufhalten kann. Ich vermute: Weil es keine Lösung gibt.
Zugegeben, das klingt pessimistisch. Wer hört schon gerne, dass die bequeme Art zu leben, an die er oder sie sich gewöhnt hat, bald vorbei sein wird? Niemand kann die Zukunft voraussagen. Wahr ist aber auch, dass einige Wissenschaftler eine Pandemie wie Corona nicht nur für möglich gehalten, sondern auch vorausgesagt haben. Trotzdem waren wir nicht wirklich darauf vorbereitet.
Ein anderes Beispiel: 1972 erschien der Bericht des Club of Rome, in dem die Abkehr vom Zwang des Wachstums gefordert wurde, um ein ökologisches und ökonomisches Gleichgewicht herbeizuführen. Seitdem sind 48 Jahre vergangen. Viel ist geschehen, wenn man z.B. an die Veränderungen des Ruhrgebiets denkt, von einem weltweiten ökologischen und ökonomischen Gleichgewicht kann jedoch nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Im Juni 2008 veröffentlichte die Commonwealth Scientific and Industrial Research Organisation (CSIRO) eine Studie, in der die historischen Daten für die Jahre von 1970 bis 2000 mit den Szenarien der ursprünglichen Studie von 1972 verglichen werden und große Übereinstimmung mit den Vorhersagen des Standardszenarios festgestellt wird, das einen globalen Kollaps in der Mitte des 21. Jahrhunderts vorhersagt. Eine aktualisierte Studie von 2014 kam zu einem ähnlichen Schluss.
Wenn es wenigsten so wäre, dass die Gesamtmenge der Umweltzerstörung konstant bliebe – aber nein, sie nimmt zu.
Konnte man das Ende der DDR und die Wiedervereinigung voraussehen? (Allerdings habe ich 1987unter dem Eindruck des desaströsen Zustands der DDR-Infrastruktur gedacht: Das kann nicht mehr lange gut gehen.) Oder den Brexit? Den Ausgang der letzten Wahl in den USA? Nichts bleibt, wie es ist. Vom Schwelmer Einzelhandel der 1960er Jahre ist nicht viel übrig geblieben. Das Schwelm meiner Kindheit, gibt es nicht mehr. Ich trauere den alten Zeiten nicht nach, wünsche sie auch nicht zurück, weil es sinnlos ist, das zu tun. Wenn die Innenstadt krank ist, muss man sie heilen. Sicher nicht, indem man den Einzelhandel künstlich am Leben erhält.
Kürzlich wurde in Schwelm das „Netzwerk der guten Taten“ gegründet. Menschen, die glauben, Lösungen für das Problem zu haben, versuchen dafür Gehör zu finden. Sie betrachten die Innenstadt aus einer anderen Perspektive. Die Initiatorin Lilja Weirich schreibt: „Ich zum Beispiel kaufe nirgends ein, weil mich Konsum unglücklich macht. Aber ein Secondhandladen, geführt als Schülerfirma, wo Jugendliche den Laden selbst gestalten und es nicht um Gewinnmaximierung geht, sondern um das Zusammensein, an einem Ort, wo auch Mode gefertigt wird, wo man etwas lernt, wo man selbstwirksam wird, dass wäre etwas wo wir wenigstens den Leerstand mit kreativem Leben füllen könnten und gleichzeitig Sinn stiften.“Sie wollen nicht konsumieren, sondern kreativ sein. Das bedeutet, das Problem des Geschäfte-Sterbens zu lösen, indem man den Konsum einschränkt. Die Geschäfte würden nicht mehr gebraucht und könnten in Orte der Kunst, Kultur und Weiterbildung verwandelt oder zu Wohnungen umgebaut werden, wie es auch schon mehrfach geschehen ist. Mir als Künstler gefällt dieser Plan. Aber ist das nicht nur Sterbebegleitung?
Die Erfahrung lehrt, dass Ideen und Ansätze, wenn sie erfolgreich sind, von cleveren Menschen zum Geschäftsmodell gemacht werden. Das war vermutlich schon immer so. Wir nennen es Kapitalismus. Ein Beispiel: Irgendwann kamen junge Menschen auf die Idee, ihre wegen einer längeren Reise leerstehende Wohnung auf Zeit zu vermieten. Die Idee griffen US-Geschäftsleute auf und gründeten Airbnb mit den bekannten Folgen. Oder der Online-Vermittlungsdienst Uber, der die umweltfreundliche Idee, Anhalter mitzunehmen, kommerziell ausgeschlachtet und Fahrten an private Fahrer mit eigenem Auto vermittelt hat, bis dies gerichtlich verboten wurde. Alles ist eben nur so lange gut, bis es anfängt zu faulen.
Zurück zur Innenstadt. Wir, Bündnis 90/Die Grünen schreiben in unserem Wahlprogramm, dass wir eine „Brücke zwischen Ökologie und Ökonomie schlagen“ wollen. Weil wir selbstverständlich wissen, dass das Geld, das man zum Leben braucht, irgendwo herkommen muss, und dass eine Gesellschaft, die auf Tauschhandel basiert, zwar vorstellbar, aber nicht realistisch ist. Und wenn überhaupt erst zu verwirklichen, wenn die Menschheit nach der nächsten Katastrophe auf Los zurückgeworfen ist. Möglichkeiten gibt es viele: Meteoriteneinschlag, Erdbeben, Vulkanausbruch, Atomkrieg. Wahrscheinlicher ist eine etwas langsamer wirkende Variante, der Klimawandel. Eine Ahnung davon, wie das aussehen wird, bekommen wir jetzt durch die Corona-Pandemie.